Am 15. Dezember 2016 poste ich das Cover meiner Dissertation zu dem Begriff ›Camp‹ auf Facebook. Es hat die Farbe Millennial Pink. Ich habe an dem Buch offiziell seit Ende 2008 gearbeitet, innoffiziell erst seit 2011 oder sogar 2012. In der Zwischenzeit habe ich mich mit drei gleichzeitig ausgeübten Tätigkeiten abgelenkt, Jobs, und gelegentlich versucht, eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu bekommen. Vergebens. Daher schreibe ich an drei Tagen Blogeinträge zu Werbeartikeln in Paderborn, bin abends Online-Redakteurin und am Wochenende Lehrbeauftragte oder Online-Redakteurin, manchmal bin ich beides. Schriftstellerin wäre ich auch noch gern. Wann ich an meiner Dissertation arbeite, weiß ich nicht mehr. Ich will den alten Terminplanern keinen Glauben schenken, in denen ich stundenweise Schreibzeiten eingetragen habe. Ich komme dennoch voran – Text für Text, Exposé für Exposé, Seite für Seite. Es ist mühsam, freudlos. Aufgeben kommt mir nicht in den Sinn, wird verdrängt.
Anfang 2015 suche ich mir nach einigen Jahren Freiberuflichkeit wieder eine Festanstellung, Vollzeit. Ich halte es nicht mehr aus, am Ende des Monats mit zehn Euro in einem Aldi-Markt zu stehen, als wäre ich noch 18 Jahre alt, gerade ausgezogen und würde 1,5 Liter Pfirsicheistee für eine gute Option halten. Ich bin 33.
Meine Dissertation verfasse ich somit an Wochenenden und bringe sie in meinem Sommerurlaub zu Ende. Für meine Disputation nehme ich mir im Herbst anderthalb Wochen Urlaub. Ich praktiziere Wissenschaft als Hobby. Im Anschluss an diese letzte Prüfung rufe ich meine Mutter an. Ich blicke dabei auf einen Luftballon, der einen roten Apfel darstellt, durch den sich eine Raupe gefressen hat. Die Raupe hat einen Doktorhut auf. »Congrats Grad«, steht da noch. Es ist November. Ein paar Tage nach meiner Disputation fahre ich nach Berlin. Ich stehe auf einer Party von »Texte zu Kunst« rum und trinke zu viel.
Das Foto bekommt 55 Likes. Wenn alle Personen hinter den Likes das Buch kaufen würden, hätte ich einen Bestseller, denke ich. Ein Unbekannter auf Facebook und eine ehemalige Kommilitonin aus Köln fragen mich, ob sie das Buch haben können. Ansonsten verteile ich ein paar Belegexemplare. Eines geht an meine Mutter. Der Druck des Buches kostet mich über 2000 Euro. Ein kritischer Blick auf mein Tagesgeldkonto, auf dem es auch keine Zinsen mehr gibt.
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Als ich das Cover für meine Dissertation poste, liegt das Brexit-Referendum ein halbes Jahr zurück, Donald Trump wurde zum US-Präsidenten gewählt und meine Mutter bekommt bereits Bestrahlung und Chemotherapie. Nichts löst sich mehr über Nacht. Die Therapie sei, so wurde es mir im Angela-Merkel-Mode gesagt, alternativlos. Ich bin mir nicht ganz sicher. Im August 2016 wurde meine Mutter am Hals operiert. Es war ein Lymphom, das dort hausierte, obwohl sie regelmäßig und seit Jahren zur Kontrolle der Schilddrüse ging. Jetzt, plötzlich, Operation, Diagnose, eine lange Narbe vom Ohr bis zur Brust auf der rechten Seite, die sehr gut verheilt, fast unsichtbar ist, wie ein gut geklebtes Stück Porzellan wirkt.
Ich besuche sie so oft wie möglich und stopfe auf der Fahrt Bücher in mich hinein, an deren Titel und Inhalt ich mich nicht mehr erinnere. Ich weiß jedoch, dass bei der Strahlentherapie das Buch »Und die Bibel hat doch recht« auf einem Tisch vor den Kabinen lag. Weihnachten 2016. Da ich meinen Jahresurlaub aufgebraucht habe, sitze ich drei Tage bis Silvester in der Redaktion rum, während meine Mutter aufgrund eines Infektes noch mal ins Krankenhaus muss. Ich fühle mich hilflos. David Bowie ist seit elf Monaten tot. Alle sind tot.
Anfang 2017 muss ich wegen einer schweren Erkältung zum Arzt. Irgendwann schreie ich in der Redaktionssitzung rum. Ich melde mich krank und kündige bald darauf. Ich erhalte eine Überweisung zum Psychologen. Burnout, steht da auf dem rosafarbenen Papier in einem antiquierten Nadeldruckerlook. Ich löse den Schein nicht ein.
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Alles wird gut, ist mein Mantra. Ich bin ab dem Frühjahr 2017 wieder selbständig, bekomme Wirtschaftsförderung, meine Dissertation wird veröffentlicht, ich habe ein Interview auf Deutschlandfunk, ich halte einen Vortrag am Pop-Institut der Folkwang Universität der Künste, bekomme dort einen Lehrauftrag, der mir ein unbestimmtes Etwas wie kein anderer Lehrauftrag zuvor verleiht.
Ich stehe überall in der Nahrungskette ganz unten und habe dennoch eine gute Zeit. Ich schreibe vor mich hin – für mich, für drei Likes, für 28, 54, 80, 110 oder 150 Euro. Regelmäßige Projektarbeiten für Unternehmen sichern mir mein Leben. Ich fahre zur Biennale nach Venedig. Es ist der zweite Flug in meinem Leben.
Als die Welt feststellt, dass Harvey Weinstein nicht Monroe Stahr ist und nicht wie im Film melancholisch durch leere Produktionshallen läuft und dabei aussieht wie der junge Robert DeNiro, »I don’t want to lose you« dabei flüsternd, stehe ich auf einem Weezer-Konzert in Köln. Warum? Ich wurde dazu eingeladen.
Ich lese nach zwanzig Jahren erneut: »Im schlimmsten Fall akzeptierte ich Hollywood so ergeben wie ein Gespenst, dem man ein bestimmtes Spukhaus zugewiesen hat« (F. Scott Fitzgerald, »Die Liebe des letzten Tycoon«).
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Ich erhalte Ablehnungen und weniger Aufträge. Es regnet 2018 kaum zwischen April und September. Mein Bruder ist krank. Ich taumle.
Als ich an einem zu warmen Montagmorgen Ende September für einen Text ansetze, der mich über den nächsten Monat bringen würde, ist mein Bruder bereits tot. Zittern, Durchfall, Übelkeit. Schock. Trauer. Angst. Totale Hilflosigkeit.
Ich schreibe dennoch irgendetwas für 60 Euro – zwischen der Fahrt zum Haus, in dem er gestorben ist, dem Ausstellen der Sterbeurkunde, der Beauftragung des Bestatters, dem Versenden der Trauerkarten, der Organisation der Beerdigung, der Frage nach dem Erbe und dem Herablassen der Urne in ein Erdloch. Ich sorge mich um meine Mutter.
Wir schlagen das Erbe aus, weil darunter ein kleines unwirtliches Haus ist, um das wir uns nicht kümmern können, weder finanziell noch zeitlich. Verkauf unsicher. Wir sorgen also für einen weiteren Leerstand, in einem vergessenen Dorf im Osten mit einem Supermarkt, das vielleicht in zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren wiederbelebt oder weiter vergessen wird. Ich erinnere mich, dass meine Großeltern in den 1960er Jahren mal ein Ferienhaus in Warnemünde aufgaben.
Das Haus ist nun eine Grabstätte, die wir wie ein Heiligtum sauber gemacht haben, bevor wir es dem Staat und der Zeit vermachten. Die Kosten für die Erbausschlagung bemessen sich am Wert des Nachlasses. Meine Mutter und ich müssen jeweils 30 Euro überweisen.
Im Zug neben meiner erschöpften Mutter sitzend, die immer versucht, für mich tapfer zu sein, stelle ich mir vor, wie ich irgendwann in naher Zukunft auf einen Flohmarkt gehe und bei einem Stand mit Sachen aus Wohnungsauflösungen stehen bleibe und in eine Kiste voller Fotos blicke und dort mein Einschulungsfoto entdecke, das mein Vater mit der guten Praktica Super TL 1000 machte – von meiner Mutter, meinem Bruder, von mir in einem Kleid aus dem Westen, von Verwandten. Mein Herz gerät aus dem Takt.
Ich schaue zu dieser Zeit viele Filme und Serien, alte und neue, im Kino, auf dem Sofa oder mit dem Laptop auf der Hüfte im Bett liegend, fahl im blauen Licht. Das verrät mir mein Notizbuch, in dem ich eigentlich Buchtitel aufschreibe. »Jumanji: Willkommen im Dschungel«, »Downsizing«, »It Comes at Night«, »Die Verlegerin«, »The Invitation«, »Spotlight«, »Die Auslöschung«, »Scanners«, »Death Wish«, »Super Dark Times«, »The Big Short«, »Mission Impossible 6«, »The Florida Project«, »All the Money in the World«, »Desaster Artist«, »Star Wars – Der letzte Jedi«, »Ferdinand«, »Find Dorie«, »Nocturama«, »Skyscraper«, »The Meg«, »Das Böse«, »Die Klapperschlange«, »Ocean’s 8«, »Isle of Dogs«, »Ghostbusters 3«, »The Equalizer 2«, »You Were Never Really There«, »Die Brut«, »Hostiles«, »Black Mass«, »Three Billboards outside Ebbing, Missouri«, »Wonder Wheel«, »Ghost Stories«, »Shape of Water«, »Der seidene Faden«, »Get out«, »Blade Runner 2049«, »Hell or High Water«, »Black Panther«, »Hereditary«, »Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht«, »Fühlen Sie sich manchmal auch so ausgebrannt und leer?«. Dort steht nicht, dass ich auch die Serie »Sons of Anarchy« auf Netflix sehe.
Das Versenden einer Urne innerhalb Deutschlands kostet rund 60 Euro. Das weiß ich jetzt.
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Die VG Wort schüttet mir 2019 für meine Buchveröffentlichung 1800 Euro aus. 2019 ist auch das Jahr, in dem ich meine Bafög-Schulden begleiche und an einem Sommertag einen 50-Euro-Schein auf der Straße finde. Es war finanziell ein gutes Jahr – und sonst auch. Ich muss jetzt sogar Mehrwertsteuer berechnen. Ich lade meine Mutter auf ein Wochenende nach Hamburg ein. Sie wollte »Heiße Ecke« im Tivoli sehen. Davon bleibt ein Foto von ihr, wie sie glücklich einen Apfelstrudel auf ihrem Teller präsentiert.
Ich ließ die Versuche, irgendetwas für andere zu sein. Ich akzeptierte den Knacks. Ich sah die Welt bereits in Flammen und lobte den Moment. Ich postete selten etwas auf Social Media, nahm nicht mehr bei Literaturwettbewerben teil, ich reichte nichts bei Zeitschriften ein, ich schrieb keine E-Mails an Feuilletonleute, ich verfasste kein Exposé auf ein Call for Papers, ich fuhr nicht mehr nach Berlin. Ich ließ alles sein. Ich wollte nur arbeiten, meine Miete zahlen, in den Urlaub fahren, Zeit für Freunde haben. Ich wollte, dass immer alles gleichbleibt.
Ich beginne einen Text über meinen Bruder, der mir misslingt, weil mir die Distanz fehlt. Ich besuche London und Belfast.
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An einem sonnigen Junitag im zweiten Coronajahr stehe ich auf einer Mole in der Ostsee. Unzählige Touristen steuern von der Promenade in Warnemünde kommend wieder auf diesen schmalen Damm zu und bringen ihre Smartphones für ein Selfie in Gefechtsstellung. Blick aufs Meer. Am Horizont ein Kreuzfahrtschiff, ein Öltanker oder ein Frachtschiff. Ich weiß es nicht. Die Luft flirrt. Die Wolken wirken schlecht gerendert.
Ich bin etwas hungrig, weil mir eine Möwe vorhin das Fischbrötchen aus der Hand gerissen hat. Das ist mir in den letzten sechs Jahren, in denen ich alle zwei Monate meine Mutter in Rostock besucht habe, noch nie passiert. Beim Kauf des Backfisches blickte ich wieder auf den zum Fahndungsfoto stilisierten Aushang, auf dem eine Möwe in Sträflingskleidung abgebildet war. »Wanted«, stand da noch drauf. Von dem Diebstahl blieb mir nur ein Kratzer an der Hand.
Ich gehe zurück in die Wohnung meiner Mutter in Rostock-Lichtenhagen. Ich mache mir einen Kaffee und hole ein Stück Kuchen aus dem Kühlschrank, das von der Beerdigung übriggeblieben ist.
»Irgendetwas Klassisches«, habe ich dem Bestatter überfordert geantwortet, als ich nach der Musikauswahl für die stille Andacht gefragt wurde. Das Repertoire bestand dann aus drei Liedern, die per CD abgespielt wurden. Zwischen jedem Song war der CD-Wechsler zu hören. Die Schwere des ersten Liedes wurde abgelöst durch »Ballade pour Adeline« von Richard Clayderman, der Millionenseller, wie es auf Wikipedia heißt. Ich zuckte bei den ersten Tastenanschlägen zusammen und musste ein Lachen unterdrücken. Die Sonne schien in diesem Moment auf die Urne. Das dritte Stück zog mich wieder runter. Ich starrte auf dieses merkwürdige Gefäß mit der Asche meiner Mutter.
Der Kuchen ist eher ein Teilchen mit Quarkfüllung. Ich blicke umher. Sechs Jahre hat sie hier gelebt, in dieser Wohnung in einem fünfstöckigen Plattenbau, mit ihrer pragmatisch aufgeteilten Wohnung, die man oft gar nicht mal so schlecht findet, wäre es eben nur keine Platte in Rostock-Lichtenhagen. Rostock, Anfang und Ende. Dazwischen Staßfurt, Bad Schmiedeberg, Wittenberg, Elster, Wittenberg, Wernigerode. Doch auch in Rostock ist der Wohnraum knapp und auch nach einem Arbeitsleben, das mit 14 Jahren begann und mit 64 Jahren endete, konnte jede sich nicht alles überall leisten.
Neben ihrem Sofa steht ein kleines Bastkörbchen, das mit Katalogen, Zeitschriften, einer noch gültigen Fernsehzeitung und einem Buch gefüllt ist. Eine Art Lesezeichen schaut heraus und markiert ein Bis-hierhin, das erwartungsvoll auf die nächste Lektüre verweisen kann oder an eine längst verdrängte Leseschuld erinnert, deren seelische Last bei elektronischen Büchern nur durch eine sehr niedrige Prozentzahl auf dem Display hervorgerufen wird. Dieses Buch wird nicht mehr weitergelesen. Das Lesezeichen verharrt, es wandert nicht.
Das Buch war ein Geschenk zum siebzigsten Geburtstag im Januar. »Milch und Kohle« von Ralf Rothmann, in einer illustrierten Ausgabe mit Schmuckbildern zum Herausnehmen. »Der schreibt wieʼs Leben«, sagte sie begeistert, damals, nach der Lektüre von »Junges Licht« im ersten oder zweiten Rentenjahr, als sie das Lesen wiederentdeckte, für das immer zu wenig Zeit blieb: Arbeit, Arbeit, Arbeit und Kinder und Haushalt und Arbeit, und, und, Sorgen, Verzweiflung, Hysterie, Tod. So mancher Tod.
Das Lesebändchen und ein Schmuckfoto befinden sich zwischen den Seiten 100 und 101. Das eigentliche Lesezeichen, von ihr gesetzt, befindet sich jedoch zwischen den Seiten 48 und 49. Es ist eine Karte von der Düsseldorfer Konditorei Heinemann, die der Tüte Champagnertrüffel beilag, die ich ihr ebenfalls geschenkt hatte. Die weltbesten Champagnertrüffel, so wird erzählt.
Endete sie auf Seite 47 oder stoppte sie irgendwo auf Seite 48 oder 49? An einem Absatz? An einem Wort? Dabei eine Praline schmatzend essend, genießend? Auf Seite 49 steht das Wort »Fotze«. Ich hoffe, dass das nicht das letzte Wort, der letzte Satz war. Oder wenn, wäre das schlimm? Er schreibt halt wie’s Leben. Könnte ich die letzte Leseposition durch Fettspuren auf dem Papier nachweisen, die beim Umblättern und Halten haften bleiben? Was soll’s? Die Zeit ist stehen geblieben, dort wo sich die Karte befindet, die über den Verzehr der Pralinen über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus aufklärt.
Neben dem Buch bleiben angeschnittenes Brot in der Schublade, Essenreste in einer Tupperdose, gegossene Pflanzen, eine Teetasse in der Spüle, an deren Wand ein ausgetrockneter Teebeutel klebt, ein nicht mehr versendetes Geburtstagspäckchen an mich, ein letzter Einkaufszettel auf dem Schuhschrank im Flur zurück: »Kaffee, Butter, kl. Dose Bohnen, Küchenrollen«, steht da. Ein Schnappschuss, ein Davor, das nicht bewahrt werden kann. Die Dinge verschwinden. Kein Besuch mehr möglich.
Ich hätte gerne noch etwas länger in der Wahrnehmung meiner Mutter existiert, in ihrer Erinnerung an mich, die nur sie, als Frau, besitzt, gestehe ich. Ich wäre gerne noch etwas länger Tochter geblieben. Mein Leben beginnt jetzt mit meinem Bewusstsein. Der Rest sind Fotos und Lücken. Fragen. Ich weine mehr als üblich. Ich schlafe kurz. Es kommen Rechnungen.
Am Weihnachtstag, dem ersten ohne meine Mutter, erhalte ich Post vom Finanzamt, weil ich für das Steuerjahr 2018 Geld nachzahlen muss. Sie hätten sich vertan.